Erzählungen, Gedanken und Zeichnungen über die Kultur der Roma
von Aladin „Marko“ Sejdić
Erster Teil
Am Anfang des 20.Jahrhunderts lebte in einem herrschaftlichen Haus nahe bei Florenz ein Pferdehändler. Er hatte eine achtjährige Tochter namens Claudia. Der Händler besaß ein großes Grundstück, sehr viele Pferde und Diener, die diese für den Verkauf strie-gelten. Er spielte oft auf der große Wiese mit seiner Tochter und beide waren sehr glück-lich. Er ließ sie auf das beste Pferd steigen und bracht ihr das Reiten bei.
Eines Tages wollte der Händler mit seiner Frau und seiner Tochter ein Konzert besuchen. Sie nahmen eine Droschke und fuhren los. Es war sehr spät, als sie am Ende des Kon-zertes das Theater verließen. Es regnete in Strömen. Sie fuhren mit der Droschke nach Hause, durchquerten die Stadt und nahmen den Weg durch den Wald. Plötzlich schlug ein Blitz in einen Baum ein, die Pferde erschreckten sich und rannten los. Claudia flog aus der Droschke und der Baum erschlug den Händler und seine Frau. Nur der Kut-scher und Claudia konnten sich retten
Zweiter Teil
Nach dem Tod der Eltern war Claudia unglücklich und einsam. Sie lebte in dem großen Haus und das Klavier war ihr einziger Freund geworden. Sie wurde durch ihr Talent und die Leidenschaft, mit der sie spielte und sang, berühmt.
Eines Abends gab sie ein Konzert in dem größten Theater der Stadt. Viele wichtige Per-sönlichkeiten kamen, um sie zu hören, unter ihnen auch der Bürgermeister.
Claudia ging auf die Bühne, setzte sich ans Klavier und fing an zu spielen und zu singen:
„Ich frage mein Leben warum ich nicht geliebt werde
und es niemanden gibt, den ich liebe
jemand, den ich in meinen Armen halte
und der mich in seinen festhält.
Jemand, dem ich meine echten Tränen zeige
und ehrliche Worte zuflüstere.
Jemand, dem ich meine ganze Liebe schenke,
der einen Platz in meinem Herzen hat.
Jemanden zu lieben und von ihm geliebt zu werden.
Liebe ist alles was ich ersehne.
Das Leben antwortet:
Claudia ich bin dein Leben,
mit mir bist du geboren und mit mir bist du aufgewachsen.
Mit mir Tag für Tag, Nacht für Nacht,
Jahr für Jahr,
mit mir wirst du alt werden
und mit mir wirst du sterben.
Die Einsamkeit hat uns umschlungen,
die Angst vor den Menschen und vor der Welt
ist in deine Seele eingedrungen.
Die Menschen kommen um dich zu sehen und zu hören
und sie lieben dich.
Öffne deine Augen und du wirst deine Liebe
unter den Menschen finden.
Er ist geboren um für dich zu lieben.
Die Liebe ist in deinem Herzen
…und der Schlüssel, um es zu öffnen, ist in deinen Augen.
…Lerne zu lieben und laß dich lieben.
Claudia:
…Oh Welt, zeige mir den kürzesten Weg
…damit ich ihn schnell finden kann.
…in seinen Augen laß mich meine Träume erkennen
…und laß mich die Liebe in jenen Augen entdecken.
…Liebe ist alles was ich ersehne.“
Am Ende des Liedes kamen stehende Ovationen. Claudia beugte sich bewegt zum Publi-kum um sich zu bedanken. Der Bürgermeister ging zu ihr und küßte ihre Hand.
Dritter Teil
Es ist Nacht. Der Mond leuchtet und die Sterne erhellen eine Wiese, auf der eine Zigeu-nerkarawane rastet. Pferde weiden neben einem Wagen und das Feuer brennt in der Nähe eines Zeltes, im dem vier Kinder schlafen. Jag [Romanes für „Feuer“], ihr Vater, sitzt und schreibt im Licht der Flammen. Seine Frau meint:
„Gehe hinaus und befestige die Pflöcke am Boden. Es ist dunkel, die Wolken bedecken die Sterne, die Blitze erhellen die Nacht. Es fängt an zu regnen.“
Der Rom geht hinaus, befestigt die Pflöcke, breitet eine Plane über die Wiese und sagt zu seiner Frau:
„Halte die Plane fest, damit wir das Zelt bedecken, es hat Löcher und es regnet durch.
Sie hilft ihm. Jetzt ist das Zelt bedeckt. Während sie hineingeht und er weiter die Pflöcke befestigt, fragt er:
„Was machen die Kinder?“
„Sie schlafen.“ antwortet sie.
„Bald wird es hell sein, legt dich neben die Kinder und schlaf.“
Sie legt sich hin und er schreibt die ganze Nacht.
Der Tag bricht an, der Rom geht Holz sammeln, macht Feuer neben dem Zelt, setzt sich dann auf die Wiese und ruft seine Frau:
„Stehe auf, wecke die Kinder! Die Sonne ist aufgegangen. Hole die Decken und breitet sie aus, damit die Sonne sie trocknet. Und ihr, Kinder kommt zum Feuer um euch zu wär-men.
Die Kinder setzen sich ans Feuer und die Frau breitet die Decken aus. Sie sieht, wie die anderen ihre Zelte abbauen und meint zu Jag:
„Stehe auf, baue unser Zelt ab; alle wollen schon abfahren!“
Daraufhin Jag:
„Gehe mit den Kindern zum Wagen und nimm die Decken mit. Ich werde das Zelt ab-bauen und das Feuer löschen. Dann werden wir die andere einholen.“
Alle fahren über die Straße. Sie wollen die große Wiese am Fluß erreichen. Morgen ist ihr Fest. Die Pferde ziehen die Wagen.
Bahlav [Romanes für „Wind“], der Sohn von Jag, fragt:
„Was gibt es? Wohin fahren wir?“
Der Vater antwortet:
„Dort, hinter jenen Bergen gibt es eine Wiese, wo wir rasten können, wir werden unsere Zelte in einem Tal zwischen den Bergen aufschlagen und Feuer in der Nähe eines Flusses machen, wir werden dann essen und auf das Fest Gjurgjevdan warten.“
Vierter Teil
Der Bürgermeister trinkt mit Claudia Kaffee. Er hat ihr einen Blumenstrauß gebracht und fragt, ob sie seine Frau werden möchte. Aber Claudia nimmt den Antrag nicht an und sagt höflich, daß sie nicht heiraten möchte. Enttäuscht verabschiedet er sich von ihr und trifft auf die Zigeunerkarawane, die gerade vorbei fährt. Er wird auf die Musik und auf die Lieder aufmerksam. Auch Claudia geht ans Fenster um sie zu hören.
Die Jungen spielen und die Mädchen tanzen. Die Roma haben die große Wiese erreicht. Sie schlagen Zelte auf, machen Feuer und hängen Wäsche auf. Jag sitzt auf einem klei-nen Hügel und schreibt. Der kleine Bahlav schaut ihm zu und fragt:
„Vater, was schreibst du?“
„Ich schreibe über das Leben der Roma, ich will ein Gedicht über das Zigeunerleben ver-fassen und dann ein Buch.“
„Wieso willst du ein Buch über unser Leben schreiben?“
„Ich will nicht, daß du vergißt, was du heute siehst: Schaue den Fluß, dort steht unser Zelt, in der Nähe brennt das Feuer, und deine Mutter trocknet die Decken, die gestern Abend naß geworden sind, weil unser Zelt alt ist. Komm zu mir, setz dich hier neben mich und schaue die Zelte unserer Leute an. Sie sind auf der schönsten Wiese aufge-schlagen. Die Sonne trocknet die Tränen der Roma. Hier sind wir glücklich, die Berge beschützen unser Glück. Diese Wiese, diese Blumen, diese Vögel, diese Bergen, diese Zelte, dieses Leben will ich beschreiben. Niemand von uns darf das alles, solange er lebt, vergessen!“
Fünfter Teil
Das Zelt ist nah am Feuer aufgeschlagen und in der Nähe des Flusses befindet sich ein Wagen mit zwei Pferden. Vier Kinder schauen, wie der Vater Töpfe repariert. Die Romni stillt einen Säugling und die Mädchen bereiten das Essen vor. Das eine gießt Wasser auf das Fleisch, das andere wäscht es und das dritte läßt es braten. Unter dem großen Topf brennt das Feuer und die Romni rührt die Suppe.
Die Roma sitzen und essen auf einem Teppich neben dem Fluß. Sie sprechen über das Fest von Gjurgjevdan, das am nächsten Tag, dem sechsten Mai, stattfinden wird. Gjur-gjevdan bedeutet Georgstag. Der sechste Mai ist auch das Fest zu Ehren des Heiligen Georg. Alle haben für dieses Ereignis Lämmer gekauft.
Nach dem Essen waschen die Mädchen Teller und Wäsche am Fluß und neben dem Feuer schauen die Kinder zu, wie der Vater arbeitet. Die Romni hat den schlafenden Säugling auf die Wiese hingelegt und ist ins Zelt gegangen, um die Schlafplätze fertig zu machen.
Es ist schon Nacht und die Sterne und der Mond erhellen die Dunkelheit. Alle schlafen und neben dem Zelt brennt das Feuer.
Die Sonne ist aufgegangen, ein Mädchen wäscht sich im Fluß, es ist so früh aufgestan-den, weil es sich vor den anderen schämt.
Am Morgen des Gjurgjevdan, so wie die Tradition verlangt, müssen sich alle Roma in einem Fluß waschen, damit das fließende kalte Wasser sie läutert.
Sie zünden ein großes Feuer neben den Zelten an und gehen dann in den Wald um kleine Äste mit Blättern zu sammeln. Diese werden, als gutes Omen, am Eingang der Zelte aufgehängt.
Auch das Mädchen bringt kleine Äste aus den Wald.
Inzwischen ist die Mutter aufgestanden und das Mädchen grüßt sie.
„Gjurgjevdan, glücklich wird dein Morgen sein!“
Die Mutter umarmt und küßt das Mädchen.
Der beglückende Morgen ist angebrochen, alle geben sich die Hand, küssen und beglückwünschen sich.
An diesen Tag opfert jede Familie, zu Ehre des Heiligen Georg ein Lamm und bittet Ihn um Gesundheit und Wohlstand.
Neben dem Fluß halten zwei Männer ein Lamm fest. Während ein dritter ihm die Kehle durchschneidet, tupft ein vierter einen Finger in das Blut des Tiers und berührt dann die Stirn seines kranken Kindes.
Alle Lämmer werden vorbereitet und gebraten. Die Roma setzen sich und essen das Fleisch mit frischem Gemüse. Sie trinken den besten Wein. Die Mädchen spielen und tanzen.
Der Älteste nimmt ein Glas und trinkt auf das Wohl des Mannes, der das Lamm geopfert hat:
„Jeder Wunsch soll dir in Erfüllung gehen und du und deine Familie sollen glücklich werden!“
Woraufhin der Mann sagt:
„Ich habe das Tier für die Gesundheit meines Sohnes geopfert, soll Gott ihm Gesundheit schenken!“
Alle erheben die Gläser und sagen:
„Gott sieht uns und hört uns!“
Die ganze Nacht wird gefeiert, man spielt und singt und die Mädchen tanzen.
Es ist tiefe Nacht, alle schlafen und es regnet stark.
Eine Romni bekommt ein Kind, zwei Frauen helfen. Der Mann wartet nervös in der Nähe des Zeltes und hofft, daß es ein Junge wird. Er beachtet den Regen nicht, der ihn durchnäßt. Als die Sonne aufgeht hält eine der Frauen einen Säugling im Arm und sagt:
„Es ist ein hübscher Junge!“
Der Vater nimmt das Kind und bedankt sich bei Gott. Er geht zum Fluß und taucht das Kind dreimal ins kalte Wasser ein, damit es stark und gesund wird.
Die zwei Frauen, die bei der Geburt geholfen haben, laufen zu den anderen und rufen:
„Ein Junge ist geboren! Ein Junge ist geboren!“
Alle betrachten das Kind, einige spielen Gitarre und tanzen und überlegen, wie sie es nennen sollen. Der Älteste sagt:
„Es ist während des Regens geboren. Regen soll sein Name sein!“
Dann wird in einer Schüssel Gold und Geld für das Kind gesammelt.
Sechster Teil
Claudia schickt Diener mit Obst und Fleisch ins Lager der Roma und wird zum Fest ein-geladen. Sie geht hin, ißt mit allen gemeinsam und die Mädchen bringen ihr die Tänze ihres Volkes bei. Suno, ein Junge, schaut Claudia zu und lädt sie zum Tanzen ein.
Der Bürgermeister hat sie inzwischen gesucht, aber die Diener sagen, daß sie beim Fest der Roma sei. Er geht auch dorthin und sieht, wie Claudia und Suno zusammen glücklich tanzen. Eifersüchtig und wütend wirft er die Blumen, die er für sie gekauft hat weg und fährt zurück in die Stadt. In sein Büro läßt er den Polizeipräsidenten rufen und anordnen, daß alle Roma die Stadt zu verlassen haben.
Claudia und Suno sitzen am Feuer. Er singt und spielt für sie. Das Herz des Mädchen ist voller Liebe. Es ist das erste Mal, daß Claudia wirklich glücklich ist.
„In meinen Träumen sah ich eine wunderschöne Frau
und sah wie ihre Seele für mich weinte.
Ich umarmte sie.
Sie kam aus meinen Träumen, um mit den Roma-Mädchen zu tanzen.
Schön wie eine Blume war sie,
wie eine weiße Taube,
wie ein Zigeunerlied.
Und dieses Lied werde ich für sie singen.
Für sie spiele ich jetzt Gitarre.
Ich singe ein Lied
und es wird ihr gehören.
Seit vielen Jahren lebt sie mit uns in meinen Träumen.
Ich werde ihre schlanke Hüfte liebkosen
und ihr goldenes Haar streicheln.
Ich werde ihre schöne grünen Augen anschauen
und ihre roten Lippen küssen.
Mein krankes Herz ist jetzt geheilt “
Es ist Nacht, alle schlafen. Der Junge und das Mädchen liegen am Feuer und betrachten die Sterne. Claudia legt ihren Kopf auf Sunos Brust.
„Weißes Mädchen, du sollst dich nicht in mich verlieben. Ich bin ein verletzter Mann, mein Herz ist aus Stein, ich kann dich betrügen und ich kann dich entführen.“
„Ich kenne dich nicht, aber ich gebe dir mein Leben. Für dich werde ich alles tun, und du wirst einen großen Platz in meinem Herzen haben.“
„Ich bin ein Rom, mein Los ist mühsam und kalt, ich werde hungrig und unglücklich sein. Wenn du für mich Platz in deinem Herzen hast, mußt du mir folgen. Du mußt bis ans Ende deiner Tage betteln, stehlen, lügen und die Zukunft voraussage. Weißes Mäd-chen, du sollst dich nicht in mich verlieben.“
Siebter Teil
Als es hell wird, geht eine alte Romni zusammen mit einem hübschen Mädchen in die Stadt. Sie wollen betteln und die Zukunft voraussagen. Der Mann, der Töpfe repariert hat, lädt sie auf den Wagen und fährt auch in die Stadt.
Suno und Claudia sind aufgewacht. Beide gehen zum Fluß, waschen sich, spielen glücklich im Wasser. Das Hemd des Mädchen ist naß. Er bewundert ihren schönen Körper. Sie entfernen sich von den anderen. Hängen ihre nassen Kleider an den Ästen eines Baumes auf und legen sich nackt in die Sonne. Suno küßt sie, streichelt ihren weißen Körper. Claudia hat das brennende Verlangen, sich diesem fremden Mann hin-zugeben. Sie legt sich auf ihn und sie lieben sich leidenschaftlich. Als die Kleider trocken sind, ziehen sich beide still wieder an und gehen ins Lager zurück.
Das Feuer brennt neben einem Zelt. Eine alte Romni breitet ein Tuch auf den Boden aus, nimmt neun Bohnen, pustet auf sie drei Mal, wirft sie auf das Tuch und betrachtet sie. Claudia sitzt neben der Frau und fragt was sie sieht.
„Ich sehe in den Sternen das Schicksal der Menschen. Ich sehe ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Komm, puste auf die Bohnen, und dein Stern wird sich dir offenbaren.“
Die alte Frau nimmt die Bohnen in die Hand und Claudia pustet drei Mal. Die Romni wirft sie auf das Tuch, betrachtet sie und sagt:
„Weißes Mädchen, du bist schön und reich, aber deine Augen weinen. Folge dem Ruf deines Herzes.“
Suno ist bei den Pferden. Er hilft Claudia, auf ein Pferd zu steigen. Beide reiten gemeinsam zum Fluß, glücklich betrachten sie von einem Hügel die Zelte der Roma und reiten dann weiter zu Claudias Haus. Sie sind hungrig. Die Diener bereiten das Abend-essen vor, das auf einer langen schwarzen Tafel serviert wird.
Achter Teil
Die alte Romni und das Mädchen haben die Stadt erreicht. Die Alte klopft an einer Tür.
„Glückliche Frau, öffne deine Tür. Hast du eine Kleinigkeit für mich? “
Die Frau öffnet die Tür und gibt der Romni ein halbes Brot und drei Äpfel. Das Mädchen liest den jungen Gadsche aus der Hand und der Rom, der mit dem Wagen in die Stadt gefahren ist, repariert und verkauft Töpfe. Am Ende des Tages gehen die zwei Frauen zurück ins Lager. Die alte Frau bereitet das Abendessen für ihre Enkelkinder. Der Mann hat alle seine Töpfe verkauft, er nimmt die kaputten vom Wagen und beginnt sie zu reparieren.
In einem anderen Zelt fragt ein Rom seine Frau:
„Bist du einverstanden, wenn wir Ido um die Hand seiner Tochter für unseren Sohn bitten?
„Da Ido ein guter Mensch ist, ist auch seine Tochter gut.“
„Frau, gehe zu unserem Freund Gigi und sage ihm, daß er zu mir kommen soll.“
Die Frau geht.
„Was gibt es Gevado? “
„Ich habe dich rufen lassen, damit du zu Ido gehst und ihn fragst, ob wir ihn um die Hand seiner Tochter für unseren Sohn bitten dürfen.“
„Ich gehe sofort! “
„Ido! Ido! Bist du in deinem Zelt?“
„ Ja Gigi. Komm rein und setzt dich. “
„Gevado will wissen ob du mit einer Vermählung zwischen seinem Sohn und deiner Tochter einverstanden wärest.“
„Mein Zelt ist für ihn Tag und Nacht geöffnet. Er kann heute Abend zu mir kommen und darf seine Flasche mitbringen.“
Gigi geht zu Gevado zurück.
„Gevado, du kannst heute Abend zu Ido gehen und deine Flasche mitbringen.“
„Gigi, ruf alle und sag, daß wir um die Hand von Idos Tochter anhalten.“
Am Abend gehen alle zu Ido.
Die Flasche gehört zu einem alten Brauch der Roma. Wenn man um die Hand eines Mädchen bittet, muß die Familie des Bräutigams eine mit Edelsteinen und goldenen Münzen bedeckte Flasche als Gabe mitbringen. Sie soll in einem roten Tuch umhüllt sein.
Die Roma setzen sich auf einen Teppich und die Flasche wird in die Mitte gestellt. Wenn die Eltern des Mädchen die Zustimmung zur Vermählung geben, wird die Flasche geöffnet und man trinkt daraus. Wenn man nicht zu einer sofortigen Übereinkunft kommt, kann dieses Ritual drei Mal wiederholt werden. Wenn die Familien sich nicht einigen, sind die jungen Leute gezwungen zu fliehen.
Ido breitet einen Teppich neben dem Zelt aus und bittet alle sich hinzusetzen. Gevado stellt die Flasche in die Mitte und wendet sich an Ido.
„Bist du einverstanden mit einer Vermählung zwischen meinem Sohn und deiner Tochter? Meine Frau und ich möchten sie als Schwiegertochter haben, sie muß jedoch einverstanden sein. Wenn sie vor allen ihre Zustimmung gibt, ist sie als unsere Schwie-gertochter willkommen. Laß sie rufen! “
Das Mädchen kommt.
„Wenn mein Vater und meine Mutter einverstanden sind, dann bin ich es auch.“
Ido wendet sich an Gevado.
„Wie unsere Tradition es will, wirst du mir zehn goldene Münzen und zwei Schafe schen-ken und in sieben Tagen kannst du deine Schwiegertochter bekommen. Öffne jetzt die Flasche und wir trinken auf die Vermählung.“
Alle feiern am Feuern. Die Mädchen tanzen und die Jungen spielen.
Suno hat die Nacht bei Claudia verbracht.
In der Dämmerung wird das Lager von der Polizei umstellt. Die Zelte werden verbrannt und die Roma vertrieben. Sie fliehen in alle Richtungen.
Suno und Claudia wachen auf und er sieht aus dem Fenster wie seine Leute schreiend fliehen. Er zieht sich sofort an, nimmt sein Pferd und reitet schnell zum Lager. Claudia hört die schreienden Befehle der Polizisten und wie das andere Pferd gegen die Tür des Stalles tritt, um Suno zu folgen. Der Junge ist im Lager angekommen. Er findet seine Eltern. Sie haben schon das Zelt abgebaut, ihr ganzes Hab und Gut auf den Wagen geladen und folgen den anderen. Sie ziehen an Claudias Haus vorbei. Das Pferd hat sich befreit und rennt zu den anderen Pferden. Claudia läuft hinter dem Tier her, um Suno zu erreichen, aber die Polizisten halten sie fest. Sie sieht mit Tränen in den Augen, wie Suno sich von ihr verabschiedet.
Die Zeit vergeht, Claudia ist schwanger. Nach neuen Monaten bringt sie ein schönes Mädchen zur Welt. Sie nennt es Silvia.
Neunter Teil
Sechzehn Jahre sind vergangen. Eine Zigeunerkarawane kommt am Silvias Haus vorbei. Die Roma schlagen die Zelte auf der großen Wiese auf. Die Mädchen tanzen, die Jungen spielen und die Alten bearbeiten die Kupfertöpfe.
Bahlav ist ein großer Jungen geworden. Er schreibt Erzählungen und Gedichte über das Leben der Roma. Er sitzt auf dem kleinen Hügel, wie vor Jahren sein Vater. Plötzlich sieht er von weit ein Gadsche-Mädchen, das heimlich die Roma zeichnet. Er geht zu ihr und fragt:
„Was machst du?“
„Ich zeichne diese schöne Wiese, das Wasser des Flusses und diese glücklichen Men-schen, die hier ihre Zelte aufgeschlagen haben. Und was schreibst du? “
„Ich schreibe Erzählungen und Gedichte über mein Volk.“
Sie gibt ihm die Hand.
„Ich heiße Silvia. Das Haus meiner Mutter ist hier in der Nähe.“
„Ich heiße Bahlav und bin ein junger Rom. Ich gehe von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Komm mit mir zu den anderen, damit du sie kennenlernst.“
Silvia geht mit Bahlav zu den Roma, sie begrüßt sie und stellt sich vor, dann setzt sie sich auf die Wiese und zeichnet die Kinder. Ein Mann geht auf sie zu.
„Du zeichnest sehr gut! Wie heißt du?“
Sie antwortet. Er fragt nach dem Namen ihrer Mutter.
„Meine Mutter heiß Claudia, unser Haus ist in der Nähe der Straße.“
„Ich habe deine Mutter vor sechzehn Jahren gekannt. Wir haben uns hier, auf dieser Wiese getroffen. Mein Name ist Suno.“
„Setzt dich zu mir, ich möchte dich zeichnen.“
Bahlav ruf Silvia. Sie geht zu ihm auf den kleinen Hügel. Sie zeichnet weiter und er schreibt.
Suno begibt sich zu Claudias Haus. Sie gießt gerade die Blumen im Garten.
„Bist du es, Suno?“
„Ja, Claudia ich bin es.“
Sie umarmen und küssen sich und gehen dann ins Haus.
„Ist Silvia deine Tochter?“
„Ja, sie ist meine Tochter und du bist ihr Vater. Wo hast du sie getroffen?“
„Ich habe sie mit Bahlav gesehen. Sie ist mit ihm auf der großen Wiese und zeichnet die Kinder. Sie hat mich auch gezeichnet. Bahlav schreibt Erzählungen und Gedichte über das Leben der Roma.“
„Gehen wir, und schauen was sie tun.“
Sie gehen ins Lager und dann zu dem kleinen Hügel. Suno wendet sich an Bahlav.
„Bahlav, das ist Claudia, die Mutter von Silvia. Claudia , das ist Bahlav, Jags Sohn, der vor sechzehn Jahren hier auf diesem Hügel Geschichten geschrieben hat.“
Claudia gibt Bahlav die Hand.
„Ich kannte deinen Vater und ich erinnere mich an dich.“
Sie wendet sich zu ihrer Tochter.
„Silvia, Suno ist dein Vater. Vor sechzehn Jahren kam er auf diese Wiese. Die Roma hatten ihre Zelte aufgeschlagen. Ich ging zu ihnen und habe mich in Suno verliebt. Eines morgens kam die Polizei und hat sie alle vertrieben. Ich habe ihn seit sechzehn Jahren nicht mehr gesehen.“
Silvia umarmt weinend ihren Vater.
Es ist Nacht. Die Roma sitzen am Feuer. Die Alten erzählen Märchen und die Jungen hören zu. Bahlav und Silvia fühlen, daß sie sich ineinander verliebt haben. Sie sprechen mit Claudia und Suno und diese beschließen, daß die zwei heiraten sollen.
Am Tag der Hochzeit werden die Lämmer geschlachtet und gebraten. Die Frauen legen ein großes Zelt mit Teppichen aus. Als das Fleisch fertig ist, wird es in Stückchen geschnitten und mit Gemüse, Süßigkeiten und Wein im Zelt serviert. Alle feiern und tanzen. Ein sehr bekannter Sänger ist auf seinem weißen Pferd gekommen. Er ist ganz in weiß gekleidet, er trägt auch einen weißen Hut und wird von zwei Geigern begleitet. Die Mädchen gehen zu ihm und alle singen und tanzen mit ihm. Es ist eine wunderschöne Hochzeit. Wie es Sitte ist, werden Münzen und Gold auf das Brautpaar geworfen. Das Fest dauert bis spät in die Nacht.
Suno entfernt sich. Er geht auf den kleinen Hügel, er legt sich hin, betrachtet die Sterne und stirbt.
Silvia und Bahlav verbringen ihre Hochzeitsnacht in einem Zelt. Die Frauen und Claudia sitzen draußen und warten. Früh am Morgen kommt Silvia mit dem blutbefleckten Laken aus dem Zelt. Die Frauen zeigen das Laken und alle werfen Goldmünzen darauf.
Ein alter Mann, immer noch ein bißchen betrunken von der vergangenen Nacht, geht auf den Hügel und sieht Suno. Er versucht ihn zu wecken und merkt, daß er tot ist.
„Oh Suno! Er ist tot! Er ist tot!“
Alle laufen zum Hügel und weinen. Sie tragen den Toten in die Nähe des Flusses, wo er beigesetzt wird. Claudia bleibt bei ihm und weint verzweifelt. Silvia versucht sie zu trösten.
Nach sechs Monaten erkrankt Claudia. Ihre Kräfte entschwinden, sie bleibt im Bett. Ihr Haar ist ganz weiß geworden. Silvia geht jeden Tag zu ihr. Eines Morgens findet sie ihre Mutter tot.
Claudia wird von Bahlav und Silvia neben Suno beigesetzt.
Die Roma bereiten sich für die Abreise vor. Sie verlassen die Wiese während Bahlav und Silvia am Grab von Suno und Claudia stehen. Plötzlich fliegen zwei weiße Tauben aus dem Grab und folgen den Weg der Roma.